Tech im eCommerce. Durchaus reichweitenstarke Namen aus der Entwickler-Bubble schlagen Alarm: „Wir müssen jetzt den Kunden in den Mittelpunkt stellen!“ Euphorisch wird diese Binsenweisheit präsentiert, als hätte man gerade das Rad neu erfunden. Und dann folgt reflexartig der Ruf: „Heureka. Wir alle müssen umdenken.“
Falsch. Nicht wir alle. Umdenken müssen nur die Techies.
Denn kluge Händler:innen und Marketer wussten schon immer, dass der Erfolg im Handel nicht aus Codezeilen und Pixeln besteht, sondern in erster Linie aus Empathie.
Wer seit jeher versteht, wie Kunden leben, was sie brauchen und in welchem Preissegment sie kaufen, baut Sortimente, die nachgefragt sind. Mit oder ohne PageSpeed-Optimierung.
Die Tech-Szene dagegen hat den Onlinehandel jahrelang als Technikprojekt missverstanden. Für sie war der Shop das Produkt. Heute zeigt sich ihnen schmerzhaft: Der Shop ist nur das Vehikel. Der eigentliche Motor des Erfolgs ist das Verständnis für den Kunden.
Die Tech-Verliebtheit als Sackgasse
Die vergangenen Jahre waren geprägt von einer fast schon religiösen Technikgläubigkeit. Jede zusätzliche Millisekunde beim Laden, jede neue Conversion-Funktion, jeder verschobene UX-Pixel wurde gefeiert, als hinge der gesamte Geschäftserfolg daran. Konferenzen, Seminare, LinkedIn-Beiträge, große Worte. Erfahrene Marketer rieben sich verwundert die Augen ob der Naivität und eventuellen Unwissenheit der Techies, was denn die Menschen wirklich dazu bringt, den letzten Knopf im Checkout zu drücken.
Natürlich sind technische Dinge wichtig. Niemand bestreitet, dass ein langsamer Shop oder ein komplizierter Checkout Käufe verhindert. Aber das sind Basics. Sie entscheiden nicht über Wachstum und Bestand. Das zu erkennen, genau hier trennt sich die Spreu vom Weizen.
Gewinner denken schon immer vom Kunden her
Die Händler, die auch jetzt in der eCommerce-Krise wachsen, sind oftmals nicht die mit den perfektesten Shops. Es sind die, die ihre Kunden verstehen. Die wissen, welche Lebensumstände ihre Zielgruppen prägen, welche Budgets verfügbar sind und welche Produkte tatsächlich relevant sind. Wer Familien mit begrenztem Einkommen Haushaltswaren anbietet, spricht anders als ein Premiumanbieter im Bereich Beauty. Wer diese Realität kennt und ernst nimmt, baut stabile Nachfrage auf, auch in Zeiten schwacher Konsumlaune.
Beispiele aus der Praxis
Ein Modehändler investierte immense Summen in UX, PageSpeed und Personalisierung. Technisch war der Shop ein Vorzeigeprojekt. Doch die Kollektion blieb austauschbar, die Zielgruppe unscharf, das Alleinstellungsmerkmal unsichtbar. Ohne PPC lief nichts und als die Klickpreise stiegen, war das Modell nicht mehr tragfähig. Sterben in Schönheit und onlinetechnischer Perfektion.
Ein Haushaltswarenhändler aus Süddeutschland verfolgte den gegenteiligen Ansatz. Sein Shop war solide, aber nicht spektakulär. Statt in Technikfeuerwerke zu investieren, konzentrierte er sich auf Produkte, Nutzen, Preis-Leistung und eine klare Kommunikation mit seiner Zielgruppe. Er wusste genau, welche Produkte gebraucht wurden, und traf damit ins Schwarze. Ergebnis: Rendite, Wachstum und loyale Stammkunden.
Auch Eigenmarken zeigen, wie stark das Denken aus Kundensicht wirkt. Ein Tierbedarfsanbieter wertete Rezensionen konsequent aus und griff Kritikpunkte auf: bessere Verpackung, andere Zusammenstellungen, mehr Funktionalität. Daraus entstanden Eigenmarkenprodukte, die nicht nur Differenzierung und Marge verbesserten, sondern die Kunden nun langfristig binden. Technik spielte dabei nur eine Nebenrolle, entscheidend war das Zuhören.
Und schließlich Social Commerce: Junge Unternehmen im Bereich Beauty oder Haushalt setzen auf TikTok Shop, Live-Shopping und UGC. Sie treffen ihre Kunden dort, wo Kaufentscheidungen heute entstehen, in Streams, Feeds und Communities. Der Absatz wächst organisch, Reichweite entsteht durch Inhalte und Empfehlungen, nicht durch teure Klicks.
Die falsche Lesart der Konsumkrise
Besonders deutlich zeigt sich das Missverständnis in aktuellen Diskussionen der Tech-Szene auf LinkedIn bezüglich der Preis- und Produktpolitik. Statistiken werden bemüht, wie das Haushaltseinkommen durch steigende Kosten belastet ist. Daraus leiten die Sprachorgane der Webentwickler pauschal ab, alle Konsumenten würden „nur noch billig kaufen“ und die Händler müssten sich nun danach ausrichten.
Das ist nicht nur ein Irrtum, das ist kompletter Unsinn.
Richtig ist: Bestimmte Zielgruppen müssen sparen, andere bleiben zahlungskräftig und kaufen weiterhin hochwertige oder sogar hochpreisige Produkte.
Genau darin liegt die eigentliche Aufgabe des Handels: zu verstehen, welche Gruppen welchen Spielraum haben, welche Produkte sie in welcher Preisklasse auf welchem Absatzkanal nachfragen und wie man sie anspricht.
„Wer kauft was wann wo weshalb von wem warum zu welchem Preis? Diesen Leitsatz gebe ich meinen Kunden seit 30 Jahren an die Hand. Er löst die größten Aufgaben im Marketing.
Andreas Frank, eCommerce-Mentor
Wer behauptet, „alle kaufen jerzt nur noch billig“, der beweist damit nur, dass er Marketing mit seinen vier Säulen nicht im Ansatz beherrscht.
Tech ist Werkzeug, nicht Strategie
Damit kein Missverständnis entsteht: Ohne Technik gäbe es keinen Onlinehandel. Ohne Shopsysteme, Schnittstellen, Payment oder Logistik läuft nichts. Die Tech-Branche ist unverzichtbar, aber sie ist nicht der Kern des Handels.
In den letzten Jahren hat sich die Gewichtung zu sehr verschoben und Tech-Anbieter haben sich Kompetenzen zugesprochen, die nicht in ihrer DNA liegen: Markenaufbau, Kundensegmentierung, Sortimentspolitik. Das Ergebnis ist sichtbar: viele dieser Projekte stolpern, weil sie Handel mit Code verwechseln.
Zurück zum Kern
Die Konsequenz ist eindeutig, Händler müssen zurück zum Kern. Es reicht nicht mehr, an Details zu optimieren, die der Kunde nicht wahrnimmt. Entscheidend ist, die Zielgruppen neu zu analysieren, Sortimente zu straffen und Produkte so zu positionieren, dass sie nicht austauschbar sind. Es bedeutet, Preissegmente bewusst zu wählen, statt im Niedrigpreiskampf gegen Temu und Co. anzutreten. Es bedeutet, Eigenmarken zu entwickeln, die echten Kundennutzen bieten. Und es bedeutet, Performance-Marketing als Werkzeug für Launches und Tests einzusetzen, nicht als viel zu teure Dauerbeatmung ohne positiven Impact auf Marke und Customer Lifetime Value.
Der Punkt, um den es wirklich geht
Die Krise im Onlinehandel ist kein Technikproblem, sondern ein Kundenproblem. Gewinner sind die Händler, die ihre Kunden verstehen, ihre Sortimente konsequent darauf ausrichten und Technik als Werkzeug begreifen, nicht als Strategie.
Die Verlierer sind diejenigen, die glauben, PageSpeed sei der Schlüssel zum Erfolg. Sie müssen jetzt lernen, was Kaufleute schon immer wussten: Handel war nie Code. Handel war schon immer Kunde, Produkt, Bedürfnis, Empathie.
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